Liebe Gemeinde,
Segen – woran denken Sie, wenn Sie dieses Wort hören? An Gott, vielleicht an das Sprichwort:
„An Gottes Segen ist alles gelegen“?
Ja, auch ich bringe dieses Wort zuerst und vor allem mit Gott in Verbindung.
Schon auf den ersten Seiten der Bibel geht es um den Segen der Schöpfung, etwa den Segen des siebten Tages, des Ruhetages für den Schöpfer und seine Menschen.
Oder denken wir an Abraham: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“, sagt Gott zu ihm. (1. Mose 12,2) Die ganze Abrahamsgeschichte ist eine einzige fortlaufende Geschichte des Segens: Der Segen des Schutzes auf dem Weg zu einem großen, aber fernen Ziel ins verheißene Land, einem Weg voller Gefahren und Versuchungen. Dazu der Segen für die Familie – mit Isaak, Jakob und seinen vielen Nachkommen.
Für Martin Luther lag im Segen die „gantze Theology auff einen Hauffen“. Der Segen verbindet mit dem Heil, das Christus schenkt.
Zu allen Zeiten wünschen, erbitten, brauchen Menschen den Segen Gottes, denn er ist etwas Wohltuendes, etwas, was mit einem beglückenden, erfüllenden Gelingen zusammenhängt.
Und so ist es auch nicht zufällig, dass wir Gott um seinen Segen bitten, um seine Zuwendung, die das Gelingen schenkt, besonders an den sensiblen Höhe- und Wendepunkten unseres ganz persönlichen Lebens: Sicher erinnern Sie sich, wie das Segnen Ihres Kindes bei seiner Taufe Sie besonders berührt hat. Oder an den besonderen Moment damals, als wir als Paar bei unserer kirchlichen Trauung den Segen Gottes für unseren weiteren gemeinsamen Weg durch das Leben zugesprochen bekamen. Wenn unsere Kinder den Segen Gottes bei ihrer Konfirmation empfangen, dann wird uns als Eltern, Großeltern oder Paten bewusst: ja, unser Kind wird erwachsen, es wird hoffentlich seinen Weg finden, möge Gott dabei sein! Und wenn unser Leben zu Ende ist, wird uns der Segen noch ein letztes Mal zugesprochen, jetzt mit dem Ausblick auf das ewige Leben in der unmittelbaren Nähe Gottes.
Und natürlich nicht zu vergessen: was wäre ein Gottesdienst am Sonntag oder einem anderen Feiertag ohne den Segen Gottes? Warten wir nicht geradezu darauf, dass am Ende der Pfarrer oder die Pfarrerin die Hände erhebt und die Segensworte mit dem Zeichnen des Kreuzes noch einmal bestärkt? Das Wort „segnen“ kommt vom Lateinischen „cruce signare“, mit dem Kreuz zeichnen. Gesegnete sind Gezeichnete. Ausgezeichnet mit der Kraft Gottes, die den Tod in Leben wandelt.
Und noch etwas Besonderes hat es mit dem Segen auf sich: Segen ist nichts Statisches, Segen muss fließen wie ein Fluss. Segen kann nur da seine ganze Wirkung und Kraft entfalten, wo er weitergegeben wird. Das haben Segen und Liebe gemeinsam. Sie können sich immer nur am anderen entfalten und nicht an mir selbst. Und deshalb ist das Zusprechen des Segens auch nicht allein uns Pfarrern und Pfarrerinnen im Gottesdienst vorbehalten. Auch Sie können den Segen Gottes einem Anderen zusprechen, einem Menschen, den Sie lieben, der Ihnen am Herzen liegt: Ihrem Partner, Ihrem Kind oder Ihrem Enkelkind. Wie wohltuend das ist – Segen zuzusprechen und ihn zu empfangen, zeigt eine Geschichte, mit der ich schließen will: „Der Segen meines Großvaters“, an den sich Rachel Noemi Remen so erinnert:
Wenn ich an den Freitagnachmittagen nach der Schule zu meinem Großvater zu Besuch kam, dann war in der Küche seines Hauses bereits der Tisch zum Teetrinken gedeckt. Mein Großvater hatte seine eigene Art, Tee zu servieren. Es gab bei ihm keine Teetassen, Untertassen oder Schalen mit Zuckerstückchen oder Honig. Er füllte Teegläser direkt aus einem silbernen Samowar. Man musste zuerst einen Teelöffel in das Glas stellen, denn sonst hätte das dünne Glas zerspringen können. Mein Großvater trank seinen Tee auch nicht so, wie es die Eltern meiner Freunde taten. Er nahm immer ein Stück Zucker zwischen die Zähne und trank dann den ungesüßten heißen Tee aus dem Glas. Und ich machte es wie er. Diese Art, Tee zu trinken, gefiel mir viel besser als die Art, auf die ich meinen Tee zu Hause trinken musste.
Wenn wir unseren Tee ausgetrunken hatten, stellte mein Großvater stets zwei Kerzen auf den Tisch und zündete sie an. Dann wechselte er auf Hebräisch einige Worte mit Gott. Manchmal sprach er diese Worte laut aus, aber meist schloss er einfach die Augen und schwieg. Dann wusste ich, dass er in seinem Herzen mit Gottsprach. Ich saß da und wartete geduldig, denn ich wusste, jetzt würde gleich der beste Teil der Woche kommen.
Wenn Großvater damit fertig war, mit Gott zu sprechen, dann wandte er sich zu mir und sagte: „Komm her, Neshumele.“ Ich baute mich dann vor ihm auf, und er legte mir sanft die Hände auf den Scheitel. Dann begann er stets, Gott dafür zu danken, dass es mich gab und dass Er ihn zum Großvater gemacht hatte. Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit denen ich mich im Verlauf der Woche herumgeschlagen hatte, und erzählte Gott etwas Echtes über mich. Jede Woche wartete ich bereits darauf, zu erfahren, was es diesmal sein würde. Wenn ich während der Woche irgendetwas angestellt hatte, dann lobte er meine Ehrlichkeit, darüber die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn mir etwas misslungen war, dann brachte er seine Anerkennung dafür zum Ausdruck, wie sehr ich mich bemüht hatte. Wenn ich auch nur kurze Zeit ohne das Licht meiner Nachtischlampe geschlafen hatte, dann pries er meine Tapferkeit, im Dunkeln zu schlafen. Und dann gab er mir seinen Segen und bat die Frauen aus ferner Vergangenheit, die ich aus seinen Geschichten kannte – Sara, Rahel, Rebekka und Lea –, auf mich aufzupassen.
Diese kurzen Momente waren in meiner ganzen Woche die einzige Zeit, in der ich mich völlig sicher und in Frieden fühlte. In meiner Familie von Ärzten und Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr zu sein. Da gab es offenbar immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Es war nie genug. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von 100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater:
„Und was ist mit den restlichen zwei Punkten?“ Während meiner ganzen Kindheit rannte ich unablässig diesen zwei Punkten hinterher. Aber mein Großvater scherte sich nicht um diese Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war, dann wusste ich irgendwie mit absoluter Sicherheit, dass er Recht hatte.
Mein Großvater starb, als ich sieben Jahre alt war. Ich hatte bis dahin nie in einer Welt gelebt, in der es ihn nicht gab, und es war schwer für mich, ohne ihn zu leben. Er hatte mich aus eine Weise angesehen, wie es sonst niemand tat, und er hatte mich bei einem ganz besonderen Namen genannt – „Neshumele“, was „geliebte kleine Seele“ bedeutet. Jetzt war niemand mehr da, der mich so nannte. Zuerst hatte ich Angst, dass ich, wenn er mich nicht mehr sehen und Gott erzählen würde, wer ich war, einfach verschwinden würde. Aber mit der zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu sehen. Und dass einmal gesegnet worden zu sein heißt, für immer gesegnet zu sein.
Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Ihre Jasmin Gabel